Old Mathe-Mayer nannten wir ihn liebevoll, unseren alten Mathe-Lehrer. Sie hatten ihn wegen Lehrermangel in der Nachkriegszeit reaktiviert. Er sollte uns Mathematik verständlich beibringen. Doch Old Mathe-Mayer hielt es mehr mit Goethe als mit der Mathematik.
Warum er Mathelehrer wurde, ist mir heute noch ein Rätsel, denn Zahlen hasste er wie der Teufel das Weihwasser. Gedichte hingegen waren fester Bestandteil seiner Zauberpädagogik. Mitten in der Mathestunde, besonders bei lauten Störattacken einiger Schüler begann Mathe-Mayer mit tiefer Stimme ein Goethe-Gedicht zu deklamieren: „Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch.“ Und tatsächlich vermochte diese Beschwörung in der Klasse Stille zu schaffen. Sein Goethe-Repertoire war schier unerschöpflich und seine schauspielerischen Fähigkeiten recht beachtlich – sein „Erlkönig“ trieb uns doch tatsächlich Schauer über den Rücken. Obwohl wir den Ausgang des Gedichtes ja längst wussten, bibberten wir immer wieder der letzten Strophe entgegen.
Er ersparte uns pubertären Blagen nicht einmal das Kribbeln, welches die schönsten Liebesgedichte Goethes auslösten, und schwärmte von der Wonne der heißen Küsse, die Johann Wolfgang und Friederike ausgetauscht hatten. In Erinnerung an unseren poetischen Mathe-Mayer frage ich mich zuweilen: „Sollten unsere Politiker mehr Goethe lesen?“ Unser Mathe-Lehrer jedenfalls hat gewusst, dass unser Leben sich nicht einfach in Zahlen fassen lässt. Wahrscheinlich hat uns der alte Goethe auch heute noch etwas zu sagen!
Mein Appell an die Politiker: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen!“ (Goethe)
Rolf Burmester